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Brigitte RANC-ZECH: 2_Kapitel 10

Auszug aus dem Roman 

Les Glycines d’Altea 

de Jacques Thiers 

Übersetzung ins Deutsche: Brigitte RANC ZECH 

 

Kapitel 10 

 

Wenn es Ihnen angenehm ist, wollen wir uns langsam, ohne Eile erheben, –die Getränke sind bezahlt...; nein, das ist normal... ich würde gern sehen, wenn einer von uns eine Frau bezahlen lässt! Das sind Dinge, über die man nicht diskutiert, selbst wenn Sie meinen, dass unser Verhältnis zu Geld doppeldeutig sei. Sie haben Recht, doch wir haben ein eindeutiges Sprichwort, das jede Diskussion damit abschließt, dass man, wenn man kein Geld besitzt, auch keine Wünsche hegen sollte; das ist ein wichtiger Bestandteil unserer Philosophie, oder eher: unserer typisch männlichen Einstellung. Ich habe Ihnen gesagt, dass wir selten etwas begehren, doch was die Wünsche angeht, davon gibt es bei uns mehr als genug!– Also erheben wir uns ohne Eile und vermeiden den Tisch, an dem die Männer in Anzug und Krawatte sitzen. Denn wenn wir an ihnen vorbeigehen, wäre ich verpflichtet sie zu grüßen, und darauf lege ich keinen großen Wert. Sie alle sind gewählte Volksvertreter, Politiker, wie sie anderswo genannt werden. Bei uns ist es passender von „Volksvertretern“ zu sprechen. Nun gut, da Sie darauf bestehen, nennen wir sie Politiker, aber es ist nicht das Gleiche. Sehen Sie da wirklich keinen Unterschied? Dennoch ist pur semantisch gesehen „Politik“ ein universeller Begriff, der bei uns wie bei Ihnen aussagen soll, dass es ein Projekt gibt, einen Willen, der auf ein klares Ziel hin ausgerichtet ist, den Wunsch Dinge im Gemeinwesen der Menschen zu festigen oder zu ändern, und was auch immer. . .  Ein Volksvertreter hingegen gehört zu den lokalen Kuriositäten wie Käse- und Milchprodukte, Stadtviertel, Plätze und unbewegliche Menhire am Gestade unserer Geschichte. Das Wort „Elu“ (Gewählter)“ bezeichnet einen Zustand, eine Form des Daseins, für die es keinen Grund gibt, sie zu korrigieren oder in Unordnung zu bringen. Sie sagen, dass Sie mir nicht folgen können! Das zeigt mir wirklich, dass wir nicht die gleiche Sprache sprechen:  Sagen wir also Politiker und belassen wir es dabei.

Gerade weil sie Politiker sind, meide ich sie. Warum? Hören Sie mir zu: Bei uns, falls man zufällig auf Politik zu sprechen kommt, gibt es immer wieder jemand, der sich auf die Zahl der Plagen im Alten Ägypten beruft. Wie viele waren es denn? Sagen Sie es mir, denn ich verwechsle sie 

 

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immer mit der Anzahl der Zähne, der Rippen –unechte oder nicht– oder gar mit den der sieben Weltwunder, welche die Menschen überall ausgemacht haben. Man stelle sich das Unglück vor, wären sie auch noch auf unsere Politiker gestoßen. Als Moses das Rote Meer öffnen ließ, wären sie eher kopfüber hineingestürzt, als unsere Volksvertreter zu ertragen. Es ist eine verdammte Brut von Scharlatanen und Gaunern. Dass aber kein Missverständnis aufkommt! Ich für meinen Teil gehe nicht soweit mich an diesen Auswüchsen des Diskurses zu beteiligen, doch das ist nun mal der ihnen angedichtete Ruf. Es scheint, sie besäßen die Kunst des Betruges, die sie an ihre Erben vermachen. Oder besser gesagt, sie geben sie vom Vater an den Sohn weiter. Sie ziehen eifrig umher, vom kleinsten kommunalen Holzklappstuhl bis hin zum tiefen Ledersessel eines Abgeordneten oder Landtagspräsidenten. Das geht schon seit Jahrhunderten so, und uns bleibt keine Hoffnung auf Änderung. Genau deswegen meide ich die Tische der Politiker. Einfach aus Solidarität mit dem Wort des Volkes. Entschuldigen Sie, liebe Freundin, aber Sie liegen wieder falsch: Persönlich hege ich keinen Groll gegen sie und es kommt sogar vor, dass ich mit dem einen oder anderen zusammensetze, meine Meinung äußere und eine Runde ausgebe. Aber wenn ich kann, meide ich sie. Wenn man einen Schritt weitergeht könnte man urteilen, dass meine Zurückhaltung angesichts meines Argwohns, ihnen gegenüber, als übertrieben zu bezeichnen ist. Immerhin kann ich von einigen meiner Altersgenossen, berichten, dass wir die gleiche Erziehung genossen haben. Und dass wir eine Menge gemeinsamer Erinnerungen teilen, die unumgängliche, ideologische Feindseligkeiten erheblich in Frage stellen, wenn es etwas zu ändern gilt und die die Kampfesstärke deutlich herabsetzen wenn es darum geht einem Übel zu Leibe zu gehen, das gemeinhin schädlich für das Volk ist. Mit Einigen unter ihnen bin ich sogar verwandt und in solch einem Fall ist es nicht notwendig, dass ich auf die sich daraus ergebenden Hindernisse näher eingehe. Deshalb, meide ich sie, wenn ich es kann.

Ich habe ihrer Begrüßung nicht ausweichen können und ich bin sicher, dass sie uns für Heuchler halten müssen, wenn ich, davon ausgehe, was Sie über unsere theoretischen Gegensätze wissen und was sie über alle diese Begrüßungen, die fast für Freundschaftsbekundungen gehalten werden könnten, denken, Fällt es Ihnen schwer, diese intime Ehe aus intellektueller Distanz und einer emotionaler Komplizenschaft nach zu vollziehen?

 

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Und doch, wenn man bereit ist, sich ein wenig Mühe zu geben, erscheint mir die Ambivalenz meines Verhaltens sehr wohl begreiflich. Ich habe jedoch bemerkt, auf welche Weise sie uns zusahen, als wir uns begrüßten und ich habe das Ausmaß der Situation für einen Beobachter erkannt, wolle er eine eventuelle vorhandene Doppelmoral zwischen dermaßen unterschiedlichen Menschen ausschließen. Dieser schlanke und sehr höfliche Mann ist leicht zugänglich. Er ist der Bürgermeister. er ist ein Vuciali. Er erweckt immer den Eindruck, als sei er bereit, zu grüßen. Diesen Tick hat er sich während seiner Wahlkampagne zugelegt und ist ihn nie wieder losgeworden ̶ denn man weiß ja nie ̶. Wir kommen nicht aus dem gleichen Viertel, aber wir kennen uns schon ewig. Als Kinder, bewarfen wir uns auf dem Platz ‚Saint Nicolas‘ mit Steinen, aber es kam auch vor, dass wir zusammen spielten.

Haben Sie schon mal Ciccia gespielt? Entschuldigen Sie, ich hätte Ihnen diese Frage nicht stellen sollen, denn das ist kein Spiel für Mädchen. Nun ja! Sie sollten wissen, dass wir mit den Jüngeren unter den Leuten, die Sie gerade sehen, die heikle Zeit unserer Kindheit überstanden haben, indem wir uns gegenseitig Fußtritte, Faustschläge, Rippenstöße und freundschaftliche Ohrfeigen verpassten, außer in den Momenten, wo Ciccia spielen zur Versöhnung beitrug.

Es dürfte selbst bei Ihnen gespielt werden. Aber vielleicht nennt man das Spiel anders…Einer der Jungen drückt sich fest gegen eine Mauer: seine Handflächen müssen sich wirklich gegen den Mauerputz stemmen, seine Arme müssen halb ausgestreckt sein um nicht zu wackeln, wenn der Gegner auf ihn landet. Der gewisse Junge sollte auf Robustheit und Stämmigkeit hin ausgewählt werden, denn er wird als Stützpfeiler fungieren. Falls er hin und her schwankt, bricht die ganze Mannschaft ein, und landet mit allen Vieren in die Luft, auf den Boden und ermöglicht so dem Gegner den Sieg. Der Gegner wird natürlich den muskulösesten und sportlichsten Spieler für diese Rolle benennen. Dieses Privileg habe ich nie gehabt, trotz sich wiederholenden Bitten, die regelmäßig erfolgten und von diversen Dienstleistungsangeboten begleitet waren, und die, wenn sie auch den Erwachsenen unbedeutend erschienen, bei den Kindern jedoch in der Skala der Wertschätzungen bei Kindern ziemlich oben standen. Selbst kompetente und scharfblickende Soziologen und Psychologen konnten sie nie ordentlich  interpretieren, da man, per Definition nicht in diesen axiomatischen Bereich eindringen kann.

 

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Ab einem gewissen Alter ist das logisch, denn ab diesem Zeitpunkt hat man nicht mehr die gleichen Wünsche.

Ein anderer Partner beugt sich nach vorn, steckt ihm seinen Kopf von hinten zwischen die Beine und klammert sich mit seinen Händen an seinen Oberschenkel und hält sie fest zusammen, die Muskeln angespannt und den Atem anhaltend. Ein Dritter tut das Gleiche, und so weiter, gewöhnlich reichen drei oder vier Spieler. Die Spieler der Gegen-Mannschaft wuchten sich mit ihrer ganzen Kraft auf den Rücken der Gegner, wo sie so lange wie möglich, rittlings, aushalten müssen. Sie werfen sich mit ihrem gesamten Gewicht auf den Gegner. Die Gemeinsten unter ihnen machen spitze Knie, um dem Gegenspieler das Rückgrat zu lädieren, wenn die Wucht der projektierten Masse auf ihn trifft: Man kann sich noch so gut darauf vorbereiten, der Aufprall überrumpelt  immer. Andere machen aus Vorsicht weniger grausame Sprünge, indem sie ihre Beine offenhalten, –der Schmerz ist geringer und nimmt einem nicht den Atem–: Sie wissen nur zu gut, dass sie früh oder später an der Reihe sind und mit ihren zwar wuchtigen jedoch besonnen ausgeführten Sprünge bitten sie so im Voraus um ein maßvolles Vorgehen beim Gegner, der eine gewisse Rücksichtnahme zu respektieren weiß, die es zwischen Leuten geben muss, die wissen, dass man nicht immer den Anspruch darauf erheben kann, oben zu sitzen und genügend Fantasie zu haben, um sich vorzustellen, was sie selbst zu ertragen haben, wenn der Moment gekommen ist, in dem sie sich nicht mehr oben sondern unten befinden. Deshalb haben alle unsere Volksvertreter, selbst die Ärmlichsten und Schwächlichsten, Ciccia gespielt. Und deshalb glaube ich, dass man nicht umhin kann, diese Umsicht sozialen Respekt zu nennen, vorausgesetzt, dass das Spiel zwischen Menschen abrollt, die aufgrund ihrer Geburt weder der gleichen Klasse angehören, noch über das gleiche Vermögen verfügen, aber die die Umstände einen Moment lang vermischt haben und zwar in einer Freizeit-Aktivität, die gezwungenermaßen egalitär ist.

Ich habe mit der Mehrzahl der jüngeren Volksvertreter Ciccia gespielt und ich wäre nicht überrascht zu erfahren, dass sich, wenn es möglich wäre, unsere gegenwärtigen Beziehungen im Allgemeinen den Umgangsformen angleichen, die damals die Söhne aus der La Traverse oder des Platzes mit den Schlingeln der Häuserviertel zusammenbrachten. Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, dass ich dazu bestimmt war, nur wenige Affinität zu diesen Ratten zu haben, und das, obwohl ich selbst ein wenig zu ihnen gehörte, –aber habe ich

 

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Ihnen schon anvertraut, dass wir auf La Traverse wohnten und dass dieser Wohnort mich mit einer eher ungewöhnlichen Identitätsmischung behaftet hatte?–, denn der von mir beschrittene Weg hatte mich dem Sozial- und Verhaltensmodell immer näher gebracht, das unser Volk als privilegierte Klasse definiert, es bleibt mir nur noch die Möglichkeit, in den ideologischen Konflikte die sich uns heute entgegenstellen, erneut auf Spurensuche altherkömmlichen Widersprüchlichkeiten zu gehen, die bereits in den rauen Spielen gegeben waren und bei denen wir uns ab und zu in den Hinterhöfen und den Plätzen der Esplanade trafen. Ich habe diese mehrdeutige, uns vereinenden Bande, noch immer vor Augen. Oft setzt sich auf bizarrer Weise die Erinnerung daran bei mir durch. Wie bei den letzten Kommunalwahlen, als ich mit Freunden eine Liste gegen den amtierenden Bürgermeister aufgestellt hatte, der zu denen Ratten gehört, die in Ihrem Beitrag einen besonderen Stellenwert einnehmen werden, falls Sie sich bereit erklären, Ihnen den Platz einzuräumen, den diese in meiner Darlegung einnehmen. Am Wahlabend, durch den weitgehend vorauszusehenden Sieg meines Gegners gedemütigt –ich war haushoch geschlagen worden und es gab selbst Menschen, die mich fertigmachen wollten, indem sie sagten, ich könne die Niederlage nur mir selbst zuschreiben–, aber ich sehr wohl sah, dass der Bürgermeister nicht danach trachtete, mich niederzumachen, indem er mich mit der aufsehenerregenden Niederlage unserer Liste konfrontierte, konnte ich nicht umhin, an die Rache zu denken, die ich an einem Tag vorweggenommen hatte, als ein glücklicher Zufall beim Spiel ihn direkt hinter mich platziert hatte, mit dem Kopf nach vorn gebeugt und zwischen meinen Beinen gezwängt; damals rieb ich ihm die Ohren mit meinen sich hin und her bewegenden Oberschenkeln, die ich unter dem Vorwand die Position meiner Beine und Füße sichern zu wollen um den gegnerischen Angriff besser abfangen zu können. Ermutigt durch eine Position, die mir eine sozial unverhoffte Überlegenheit verschaffte, die ohne diesen glücklichen Umstand in sehr unwahrscheinlich gewesen wäre, ging ich dazu über, an der seit ewig empfundenen Ungerechtigkeit gegenüber den Ratten zu rütteln. Und hatte sogar die Gewissheit, dass dieses Spiel diese bauchmuskuläre List zuließ, die jeglichen Sarkasmus aufwog, Obendrein bot sie sogar den Vorteil, das Opfer vor allen Kindern lächerlich machen zu können, wäre das Manöver öffentlich gemacht worden. Also schluckte er die Kröte herunter und tat keinen Mucks; die Sache blieb zwischen ihm und mir. Ich konnte mich nie dem Gedanken an mein vulgäres Verhalten entziehen,

 

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das mich, seit seinem unglücklichen Vorfall,  immer wieder dem Mann gegenüber verunsicherte, der, tausend Möglichkeiten hatte, mir zu schaden. Auch wenn ich heute keinerlei Gewissensbisse empfinde, kann ich mich auch nicht für eine Zurückhaltung erkenntlich zeigen, die meines Erachtens wohl eher aus Furcht vor Sarkasmus und Skandale resultierte, als aus dem Edelmut eines Herzens, dem man Beleidigungen aufrichtig verzeihen sollte. Somit gehen unsere Beziehungen  zwischen Anstand und Schweigen unter den Blicken der anderen weiter und angesichts des Unverständnisses, das ich in ihren Augen lese, wenn ich Ihnen eine solche Ungeheuerlichkeit anvertraue.

Der andere ist älter; Sie haben bemerkt, dass in den Grüßen, die wir miteinander ausgetauscht haben, weniger Wärme lag. Sein Name ist Fuciali. Ich schätze ihn noch weniger als den vorherigen. Das liegt an seinen ehrerbietigen und selbstgefälligen Charakter. Ich mag diese Wesensart bei Menschen nicht, wenn ich sie bei Leuten antreffe, die absichtlich oder nicht, das Bild von Erfolg und Macht in unserer Gesellschaft repräsentieren. Erzählen Sie doch mal etwas über einen Mann  ̶ oder einer Frau ̶ , der tief in dem sozialen Umfeld verwurzelt ist, in das er hineingeboren und aufgewachsen ist, von Respekt und Neid derer umgeben ist, die im zulächeln, ihn im Geheimen jedoch dafür verwünschen, dass er glücklich und wohlhabend ist und es ihm an nichts mangelt, da er Zugang zu jenen bürgerlichen Erbschaften hat, die den Legataren ein Leben in Hülle und Fülle sicherstellen ohne Aufsehen und Prahlerei zu erregen. Was mich immer wieder begeistert, ist die Art und Weise, wie diese Kategorie von Menschen in ihr bevorzugtes Stammlokal eintritt, in dem sie, wie sie sagen, ausnahmslos nur treue Freunde zählen. Denn tatsächlich, sobald sie auf der Bildfläche erscheinen, werden sie von ihren Freunden umringt und um ihr Ansehen hochzuhalten, brauchen sie sich nur noch, plaudernd von einer Gruppe zu einer anderen bewegen und ein begonnenes Gespräch unterbrechen, um sich in ein anderes, ebenso elegant geführtes wie das vorherige, einzubringen. Dabei können sie einmal mehr abschätzen, welchen Vorteil die ihnen erwiesene Hochachtung bietet, zusammen mit den gleichzeitigen Schmeicheleien und Komplimente bieten, die sie aufgrund des Erfolges, den sie seit immer genossen haben, als selbstverständlich empfinden. Sie wissen sehr wohl, woran die sie feiernden Menschen sich verleumderisch die Zungen wetzen, wenn sie,

 

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ihren für den Moment der Begrüßungen verlassenen Platz wieder einnehmen. Sie erinnern sich an die Habsucht und Gerissenheit ihres Vaters und Großvaters, die ohne diesen hartnäckigen Willen und durch unvermeidliche Unredlichkeiten Geld und Gut im Schweiße ihres Angesichtes anzuhäufen, heute, wie die anderen Unglücklichen, fast mittellos daständen. Doch was sie auch über diese Art Kommentare Dritter wissen, hat kein Gewicht im Vergleich zu den ehrerbietigen Gesten, die sie begrüßen und begleiten.

Früher war Monsieur Fuciali genauso stolz wie die anderen, und Sie hätten seine Ankunft im Lokal erleben müssen! Aber heute ist er nur noch ein Schatten seiner selbst: Das liegt am Alter, aber auch an der Gerissenheit seines natürlichen Rivalen, Herrn Vuciali. Die Vucialis und die Fucialis waren seit immer Feinde. Abgesehen von der bestehenden Konkurrenz bei Wahlen und Geschäften, hätte es zwischen ihnen Blutvergießen und Morde gegeben, barbarische Praktiken, die jedoch unnötig geworden sind, seitdem der Staat den Familien andere, legalere Möglichkeiten zugestanden hat, sich ihrer Interessen gegen die Rechte und Privilegien ihrer Rivalen zu bedienen und bei Gelegenheit Rache zu üben. Ihre Vorfahren hatten sich immer bekämpft, zuerst ging es um Landbesitz, später um Posten und Wahlämter. Einstmals hatten die Familien eine Art Pakt geschlossen, der vorsah, dass, wenn ein Vuciali Bürgermeister war, ging das Amt des Friedensrichter an einen Fuciali und vice versa, und das galt soweit schriftliche Quellen zurückreichten, denn beim Großbrand von 1936 verbrannten die Archive des Kantons, diese dokumentarische Lücke, erlaubte es den beiden Clans sich prestigeträchtigere Ahnentafeln zu erstellen, als das, was die volkstümliche Tradition hergibt. Tatsächlich geht das Gerücht um, dass der erste bekannte Vuciali ein entflohener Sträfling gewesen sei und dass der erste Fuciali ihn bei dessen Flucht begleitet habe. Eine Überlieferung, die von einem immer noch gültigen Sprichwort bestätigt wird: „Fuciali und Vuciali sind Überbleibsel der Galeere“, doch das dürfte kaum mehr der Wahrheit entsprechen, als der Rest  mündlicher Überlieferungen.

Immerhin steht fest, dass die Fucialis nicht daran zweifeln konnten, dass ihr Schicksal vorgezeichnet war, seitdem die beiden Familien hinuntergezogen waren, um in der Stadt ihre Geschäfte zu gründen.

 

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Beide Clans wählten im gleichen Kanton  ̶  in meinem, und deshalb sind meine Informationen verlässlich–, der einen Sitz im Landrat und darüber hinaus den höchsten Rang–, nämlich des Bürgermeisters der Stadt, versprach. Die Vuciali warteten also nur auf die Gelegenheit und den Vorwand, und die Vorzeichen, die es gab, hätten bei den Anderen eigentlich Argwohn erwecken sollen. Hatten die Vuciali nicht den genuesischen Palast einer mächtigen bei der Ankunft der Franzosen tief gefallenen Familie erworben, eine Residenz, deren Haupttor mit dieser stolzen Devise: „Mit der Zeit“ gekrönt war, eine Herausforderung, die durch ein Paar Füllhörner bekräftigt, absolut keinerlei Zweifel weder über den Ehrgeiz derer aufkommen ließen, die die Residenz bewohnten, noch über ihre angebliche Sieger-Großzügigkeit gegenüber ihrem Opfer? Was mich angeht, ich glaube der Sieger ist der Sieger und Punkt. Sicherlich gibt es Großmut, aber er füllt mehr die Bücher aus als das wirkliche Leben, ein mangelndes Gleichgewicht, welches im Grunde genommen der Literatur eine gewisse kompensatorische Funktion zuweist und dem Reellen die Freiheit einräumt, sich dorthin zu bewegen, wohin es will. Obgleich mein Vergnügen darin besteht, Damen aus hohem Hause zu hofieren, versage ich mir nicht, gelegentlich in Nachtbars Ausschau nach Alteas Silhouette zu halten, da, wo Seufzer nicht angebracht sind. Somit warteten sie seit mehr als einem Jahrhundert auf den günstigen Augenblick. Auf der einen wie auf der anderen Seite beäugte man sich, um Etwas zu entdecken, das sich eignete, die Attacke einzuleiten. Da sie wussten, dass sie beobachtet wurden, hüteten sie sich, sich Vorwürfen auszusetzen, es sei denn, es handele sich um Irregularitäten, die durch Interesse und Ehrgeiz von beiden Parteien begangen und legitimiert waren und nur unter dem Gesichtspunkt der abstrakten Moral als verwerflich erschienen. In den Augen der Konkurrenten und des Bekanntenkreises, der mit Ungeduld auf die Niederlage der einen oder anderen Familie wartete, waren die Taten nicht nennenswert. Diese umsichtige und selektive Moralität war die Ursache dafür, dass die Söhne bessere Studien absolvieren konnten und dass vor allem die Töchter eine erlesene Erziehung genießen durften, Ausgaben, die den Familienvätern Anlass zum Murren brachten, denn sie warfen wenig Gewinn ab, wäre da nicht die Pflicht, die Ehrwürdigkeit und das Ansehen aller Familienmitglieder, Frauen inbegriffen, hochzuhalten. Auch die Eheschließungen waren Gegenstand besonderer Vorsorge,

 

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Vorrang hatten weder der Reichtum noch die Qualitäten der Frauen, die zur Familie stießen. Denn genau das sind die Erwägungen, die innerhalb der Familien hohen Standes im Allgemeinen, und bei Anderen im Besonderen gelten. Doch hier bei uns, werte Freundin, sind sie zweitrangig. Im Haus der Verlobten oder derer Verwandtschaft nur die Dinge in Betracht gezogen, die von der Gegenpartei hätte genutzt werden können, die immer bereit war, beim geringsten Fehler in der Strategie den Krieg zu erklären. Diese Situation währte ungefähr ein Jahrhundert. Zwischenzeitlich war viel Wasser ins Meer abgelaufen und die Familien konnten sich nicht wie damals ein. Heer von Bedientesten Lucchesen oder dörflicher Herkunft leisten. Die Familienoberhäupter hatten damals nicht angeben brauchen, wo die Ausgaben reduziert werden müssen. Ihre Ehefrauen fanden spontan die passenden Vorwände, um ihre Dienstmädchen zu entlassen und sich persönlich an die Haus- und Näharbeiten zu machen, während sie darauf hofften, sich dass sich dem Bürgertum, das am meisten vom wirtschaftlichen Zusammenbruch auf der Insel betroffen war, die Gelegenheit bot,  sich auf ergiebigere Praktiken und Tätigkeiten umzustellen, die die Wiederbelebung des getrübten Glanzes versprachen, eine notwendige Voraussetzung um aufs Neue Dienstpersonal halten zu können. Der Wettstreit hatte sich nicht beruhigt, trotz der Schwierigkeiten, des Zeitenwechsels und vor allem der Tatsache, dass die beiden Konkurrenten sich der gleichen politischen Familie angeschlossen hatten, was zur einer Allianz führte, die bei uns niemals die Ebene der Interessengemeinschaft überschreitet und in der es kurios erschiene, Ideologisches mit einbringen zu wollen. Auf diese Weise fanden sie zum gewünschten Wohlstand zurück, aber das Unwiederbringliche hatte sich ereignet, und die Vucialis siegten über die Fucialis. Als der älteste Sohn der Fucialis  ̶ der Mann, den wir vorhin gesehen haben und der damals noch nicht der schlaffe schmachtende Fleischkloß war ̶  ein jungen Mädchen aus Marseille geheiratet hatte, konnten die Vucialis noch so suchen…es gab nichts einzuwenden. Fräulein Eléonore, die sich bei den Vucialis um den Aspekt familiärer Interessen gekümmert hatte, zeigte sich beunruhigt, als sie sah, dass dieses junge Mädchen über die gebührenden Talente verfügte, die eine zukünftige Frau des Bürgermeisters ausmachen. Doch bald trat ein Ereignis ein, ein ganz nichtiges Ereignis, welches die Situation auf lange Zeit nicht hätte beeinflussen können, wäre da nicht der aufmerksame Blick der alten Tante gewesen,

 

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die trotz ihrer Gebrechlichkeit und ihrer bereits überschrittenen achtzig Jahre, von den Vucialis für alle Familienangelegenheiten konsultiert wurde, selbst für die geringfügigsten. Denn schauen Sie, sie hatte bemerkt, dass wenn der Jungverheiratete in neuer Kleidung erschien –eine Jacke, ein Hemd oder ein Jackett–, baumelte einige Stunden später ein Knopf an dem Kleidungsstück. Daraus hatte sie geschlossen, dass die die Marseillerin nicht einmal Sorge trug, die Knöpfe ihres Mannes zusätzlich zu festigen, bevor dieser seine neue Kleidung überstreifte. Die Sache wurde dem Betroffenen verheimlicht, doch die Vucialis trugen das Gerücht in der ganzen Stadt herum, und als sich die Sache als wahr erwies–dementsprechende Informationen versicherten, dass man bei den Fucialis oft gesehen hatte, wie sich ein baumelnder Knopf löste und unter ein Möbelstück rollte, wenn man an einem Tag einer Einladung zum Kaffee trinken gefolgt war, ̶̶ konnten demnach konsequentere Mittel angewendet werden. Als gewisse Vorkommnisse mit gedämpfter Stimme erzählt wurden, machten sich Zweifel breit und verhärteten sich zu einem breiten Verdacht, der sich auf das gesamte Eheleben der Fucialis erstreckte. Unter dem Vorwand ihren betagten Eltern einen Besuch abstatten zu wollen, reiste die Ehefrau alle sechs Monate nach Marseille, und eines Jahres blieb sie von August bis Weihnachten: sie gab vor, ihre Mutter sei   erkrankt, und sich ins Fäustchen lachende Leute redeten von dieser segensreichen Krankheit. Später hörte man andere Geschichten, doch reichte die Zeit nicht, um diese wahrhaftigen Verleumdungen in vorsichtige und ein wenig verschlagene Ironie zu verpacken. Zum Schluss endete alles darin, dass der Ehemann von seinen Brüdern als Hahnrei bezeichnet wurde, als sie sich an einem Abend um die sich lang hinziehende Erbschaftsteilung stritten.  Zwischenzeitlich war die Schwiegermutter tatsächlich an einer schweren Krankheit verstorben, doch das reichte nicht, um das Gerede aufzuhalten und noch weniger das bisher Geredete. Die Marseillerin war auf einmal zu einem Nichts geworden und tausende Knöpfe hüpften am Eingang der Viertels abfällig in die Höhe und rollten hinunter zum Saint-Nicolas Platz, genau zu der Stunde, an der die Männer ihren Vin cuit schlürften und die Frauen ihre Lippen mit einem Schlückchen Ambassadeur benetzten. und mit den elfenbeinernen Fächern ihren zart erröteten Wangen Luft zu wedelten, Bei der vorstehenden Beratung zur Wahl des Generalrats wusste Herr Fuciali,

 

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was auf ihm zukam. Am Vorabend der offiziellen Investitur für den Kanton erhielt er den Besuch des Parteivorsitzenden, der keine große Mühe hatte, ihn zum Rückzug seiner Kandidatur zu bewegen, die sich als gefährlich erwies, denn man wusste um die bösen Zungen, die sich nach Herzenslust darüber ausgelassen hatten. Es war also besser, dass er verzichtete. Man brauchte ihn auch nicht lange zu bitten, und er zog sich zurück, bevor er ausgeschlossen wurde. Somit konnte sich Herr Vuciali den Sitz sichern und in der Folge auch die Führung des Rathauses. Nach Jahren des Ruhestandes dachte die Partei daran, die disziplinierte Haltung des Herrn Fuciali damit zu belohnen, dass man ihm einen Sitz als Mitglied des Regionalrats antrug, was er dem Wert gemäß zu achten wusste, da die Institution noch zu jung und zu schwach war, um denen die ihr angehörten, einen echten Vorteil und eine anerkannte Autorität zu garantieren. Ich sehe schon, dass Ihnen die Sache übertrieben scheint, aber ich denke, Sie haben auch verstanden, warum er sich still verhält, und warum wir die Knöpfe unserer neuen Westen zusätzlich festigen.

Seien Sie unbesorgt, werte Freundin, mir liegt es fern Ihnen die Schwächen, die Gebrechen und die Unvollkommenheiten all der Personen aufzuzählen, die ich Ihnen vorgestellt habe und die Ihnen höfliche Komplimente gemacht haben, die Sie beeindruckt und entzückt haben, ̶̶ protestieren Sie nicht, ich habe es bemerkt ̶ . Mir scheint, dass Sie nach diesen zwei Andeutungen, verstanden haben müssen, wie Leute im sozialen und mentalen Blickfeld unseres Landes einzuordnen sind. Leute, unter denen diese Anführer, die unsere heutigen Politiker sind, die sich damit zufrieden gaben, sich eines schönen Tages zu begegnen, als wir dasselbe Gymnasium besuchten. Kinder von Vätern, die mit Gerissenheit und gesundem Menschenverstand versehen und über eine eingeschränkte persönliche Originalität verfügend, damals bereit waren, gegen versprochenes Kleingeld bei einer Wette mit Kameraden, sich mit einem Ruck die Haare des wachsenden Flaums am Kinn auszureißen, Kameraden, die von so viel Mut fasziniert waren und die die trotzige Missachtung für ein Studium bestaunten, das den anderen ohnehin wenig Vorteile für eine bereits vorgezeichnete Zukunft verschaffen konnte, in der Geld und Macht den Ton angaben. Es missfällt mir nicht, die Ticks und Manien zu kritisieren, die unsere Abgeordnete eher zu grotesken als zu schlechten Menschen machen. Denn so kann ich mich des Grolls befreien, der mich ohne diese Mittel dazu verleiten würde,

 

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weniger amüsante Machenschaften und Finanzpraktiken anzugeben, für die die Aussicht auf eine Veröffentlichung in einer großen Tageszeitung wie der Ihrigen erfordert, dass, will der Informant sich nicht den daraus folgenden Ermahnungen und Unannehmlichkeiten stellen, denn Beitrag besser verschweigt oder minimisiert. Machen Sie mir bitte keine Vorwürfe für ein Schweigen, welches wir alle geneigt sind zu bewahren und welches, darum bitte ich Sie, eher als Ausdruck einer kulturellen Komplizenschaft betrachten sollten, als eine gewisse feige Vorsichtsmaßnahme, die vielleicht nicht gerechtfertigt ist, da es keinen Grund gibt, davon auszugehen, dass die Verantwortung für die von uns durchgemachte Situation allein lokalbedingt wäre. Ich hege eine große Vorliebe für Candide, und Sie…? Nein nicht unserer, dieser da, ist der kontinentale Candide, ein spitzfindiger Candide, wie man ihn hier bezeichnet. Ich halte ihn für geistlos, denn die Entrüstung, die er jedes Mal dann empfindet, wenn er ein durch Dummheit oder menschliche Habgier provoziertes Unheil entdeckt, lässt bei ihm in Kopf und Zunge einen Diskurs, der für eine konkrete Zivilisation wie die unsrige ein wenig zu abstrakt ist. Nein, ich rede vom sizilianischen Candide, Ihrem Candide, wenn er Zucco, einer Person mit einer undefinierbaren Tätigkeit zwischen Immobilienhändler und Wahlkampfhelfer, antwortet. Nachdem er gehört hatte, wie Zucco, ihn beglückwünschte, dass er sich mit Paola niedergelassen und sein Anliegen eingerichtet hat, durchschaute er schließlich, dass dieses Individuum ihm davon abriet, Reben auf seinem Grundstück anzupflanzen, das vor den Toren des Dorfes lag und auf dem die Gemeinde plant, ein großes Krankenhaus zu bauen. Anfangs kann Candide dem Diskurs seines Gesprächspartners nicht folgen, und so ist Zucco gezwungen, ihm zu erklären, dass, da das enteignete Grundstück zu einem stolzem Preis bezahlt wird, es offensichtlich sei, dass derjenige, der entscheidet, an welchem Ort das Krankenhaus gebaut wird, dem Grundstückseigentümer einen großen Dienst erweisen, ein großes Geschenk machen wird. Die Mission von Zucco war somit völlig klar: „Sollte der Eigentümer nicht danken? Natürlich wird er sich bedanken, indem er ihm einen Prozentsatz der Summe zukommen lässt, die er einnehmen wird.“ Über Ihren Candide habe ich mich fast totgelacht, denn er entrüstete sich, als Zucco, durch das Schweigen seines Gegenübers irregeführt, den Betrag nannte, den diejenigen verlangten, die ihn schickten. Er hat tatsächlich von alledem nichts begriffen und gab bekannt,

 

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dass er das Grundstück umsonst angeboten hat, da die Gemeinde ja darauf ein Krankenhaus errichten wollte.

Das habe ich nicht! Ich habe Ihnen nichts dergleichen gesagt! Ich habe diese Passage gelesen, ich fand sie unterhaltsam, Das ist alles, Punkt. Übrigens, den Name Zucco gibt es nicht auf unserer Insel.

Hier haben die Dinge eine andere Dimension. Hier ist alles viel kleiner, genau wie die Fläche und wie die Größe der Menschen. Unsere Träume überschreiten weder im Bösen noch im Guten, die Grenzwerte eines mittelmäßigen Individualismus, der, meines Erachtens nach, das Merkmal unseres Ehrgeizes und unserer Bestrebungen sein sollte. Deshalb gibt es keinen Grund, unsere Volksvertreter mit den Plagen von Ägypten zu vergleichen. Es wäre entweder eine zu hohe Ehre für uns, oder eine zu grosse Demütigung für die Gruppe der Leute in Anzug und Krawatte gegenüber, die wir nicht vermeiden konnten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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